Die Lage zur Rede der Nation

von Daniel am 06.02.2014

Bei­nahe hätte es die­sen Arti­kel nicht gege­ben. Auf dem Plan stand eigent­lich eine struk­tu­relle Ana­lyse der Regie­rungs­er­klä­rung Angela Mer­kels, die sie ver­gan­ge­nen Mitt­woch im Bun­des­tag abge­ge­ben hat. Lei­der bin ich nach fünf­zehn Minu­ten eingeschlafen.

Das ist kein sprach­li­cher All­ge­mein­platz. Ich bin tat­säch­lich ein­ge­schla­fen, wenn auch nur kurz. Die blei­er­nen Sub­stan­tive der Kanz­le­rin haben mich geschafft. In der Nach­mit­tags­schwere ein aus­sichts­lo­ser Kampf. Mehr Lan­ge­weile wagen kom­men­tierte die Süd­deut­sche Zei­tung, und ich stelle fest: Die­ses Wag­nis ist die Kanz­le­rin ein­ge­gan­gen, mit sicht­ba­rem Erfolg.

Ein guter Grund, um über poli­ti­sche Rhe­to­rik zu schrei­ben, denn das Wort­spiel ent­larvt die ganze Dimen­sion des rhe­to­ri­schen Däm­mers. Wir den­ken sofort an das knar­zige Pathos von Willy Brandts Wir wol­len mehr Demo­kra­tie wagen, ein zen­tra­ler Satz sei­ner ers­ten Regie­rungs­er­klä­rung im Jahr 1969.

Nicht jede Regie­rungs­er­klä­rung muss die­ses Niveau hal­ten. Aber man könnte es ja zumin­dest ver­su­chen, wenn schon nicht mit Pathos, dann immer­hin mit Ori­gi­na­li­tät. Unver­ges­sen hier Hel­mut Schmidt, der sich in der Regie­rungs­er­klä­rung von 1976 über seine Was­ser­rech­nung ärgert und dafür von Loriot ver­ewigt wurde. Schmidt beschließt seine Aus­las­sun­gen mit den zeit­los rich­ti­gen Wor­ten: Das hat damit zu tun, dass es in den Büros, die das machen, Leute gibt, die sich nicht in die Lage ande­rer ver­set­zen. So auch im Kanzleramt.

Die wich­tigste poli­ti­sche Rede der Welt

Im Aus­land ist man da muti­ger. Hier ent­fal­ten Regie­rungs­er­klä­run­gen eine enorme rhe­to­ri­sche Kraft, die einer Ära ihren Stem­pel auf­drü­cken: Das blood, sweat & tears Wins­ton Chur­chills etwa, oder John F. Ken­ne­dys ask what you can do for your coun­try. Man muss aber auch gar nicht auf diese his­to­ri­schen Filet­stü­cke schauen. Es reicht ein Blick auf die tags zuvor gehal­tene Rede Barack Oba­mas zur Lage der Nation.

Zuge­ge­ben: Die State of the Union ist die wich­tigste poli­ti­sche Rede der Welt, der Super Bowl prä­si­dia­ler Prä­sen­ta­tion und die Cham­pi­ons Lea­gue des Reden­schrei­bens. Im Gegen­satz zur bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Regie­rungs­er­klä­rung wird sie vom Prä­si­den­ten sogar ver­fas­sungs­mä­ßig eingefordert:

He shall from time to time give to Con­gress infor­ma­tion of the State of the Union and recom­mend to their Con­side­ra­tion such mea­su­res as he shall judge necessary and expedient.

— Art. II, § 3

Das unter­schei­det sie fun­da­men­tal von ihrem deut­schen Pen­dant: Wäh­rend diese eher als Maß­nahme zur Koali­ti­ons­dis­zi­plin dient, ist jene eine ernst­zu­neh­mende Absichts­er­klä­rung des Prä­si­den­ten — und damit die kon­krete Rich­tungs­be­stim­mung für die kom­mende Legislaturperiode.

it’s the out­line, stupid

Ein Ver­gleich lohnt aber trotz­dem. Nicht beim Rede­schmuck und den ver­wen­de­ten Stil­fi­gu­ren, auf die Rhe­to­rik für gewöhn­lich redu­ziert wird, son­dern in einem Punkt, der für öffent­li­che Reden sehr viel wich­ti­ger ist: Der Sinn­zu­sam­men­hang und die Struk­tur, die sich dem Hörer unmit­tel­bar erschließt. Denn ganz egal, in wel­chem Rah­men eine Rede gehal­ten wird — wenn sie gehört wer­den soll, muss der Hörer nicht nur die Ohren spit­zen, son­dern auch den Sinn verstehen.

Die Bun­des­kanz­le­rin han­delt hier sorg­los. Die Struk­tur erschließt sich gerade mal beim Lesen der Rede, aber auch nur dann dem geschul­ten Auge. Es wird nicht mal der Ver­such unter­nom­men, anschau­lich zu erzäh­len oder das Audi­to­rium für die eigene Sache zu begeis­tern. Man will zwar die Quel­len des guten Lebens allen zugäng­lich machen, wählt für die­sen hohen Anspruch aber den nie­ders­ten Beam­ten­jar­gon. In den Wor­ten der Süd­deut­schen Zei­tung: Die Kanz­le­rin ver­knüpfte Alt­be­kann­tes mit Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten — und streute jede Menge Plat­ti­tü­den ein. Wenn die State of the Union also dem Super Bowl der Cham­pi­ons Lea­gue ent­spricht, ähnelt Mer­kels Regie­rungs­er­klä­rung hier eher dem Freund­schafts­spiel des Sport­clubs Bil­ler­beck mit der ört­li­chen Sparkasse.

Was genau macht aber Oba­mas Rede so gut? Es liegt tat­säch­lich weni­ger an den geschlif­fe­nen For­mu­lie­run­gen, son­dern an der Struk­tur und der kon­se­quente Anschau­lich­keit, mit der die ein­zel­nen The­men erzählt wer­den. Des­halb schreibe ich jetzt auch nicht mehr über die Regie­rungs­er­klä­rung, son­dern über die State of the Union, obwohl seit­dem schon eine ganze Woche ins Land gegan­gen ist. Dafür ist sie aber immer noch schön zu hören, vor allem unter klassisch-rhetorischen Gesichtspunkten.

Ein­lei­tung

Das beginnt schon mit der Ein­lei­tung. Wo Mer­kel aus aktu­el­lem Anlass, aber völ­lig zusam­men­hangs­los etwas über die Ukraine erzählt, ent­hält Oba­mas Ein­lei­tung alles, was schon Cicero und Quin­ti­lian für ein gutes Exor­dium emp­feh­len: Auf­merk­sam­keit erre­gen, den Inhalt vor­be­rei­ten und die Hörer wohl­wol­lend stimmen.

Obama macht das gekonnt durch einen Ein­stieg medias in res, einer Zusam­men­fas­sung von Erfol­gen und Pro­ble­men und schließ­lich durch einen rhe­to­ri­schen Kunst­griff, bei dem er nicht nur alle Erfolge dem Volk zuschreibt, son­dern dabei auch die Rolle eines Volks­die­ners ein­nimmt, der Rechen­schaft über seine Arbeit ablegt.

So heißt es direkt zu Beginn der Rede:

Today in Ame­rica, a teacher spent extra time with a stu­dent who nee­ded it, and did her part to lift America’s gra­dua­tion rate to its hig­hest level in more than three decades.

An entre­pre­neur flip­ped on the lights in her tech star­tup, and did her part to add to the more than eight mil­lion new jobs our busi­nes­ses have crea­ted over the past four years.

An auto­wor­ker fine-tuned some of the best, most fuel-efficient cars in the world, and did his part to help Ame­rica wean its­elf off for­eign oil.

A far­mer pre­pa­red for the spring after the stron­gest five-year stretch of farm exports in our history.

A rural doc­tor gave a young child the first pre­scrip­tion to treat asthma that his mother could afford.

A man took the bus home from the gra­veyard shift, bone-tired but drea­ming big dreams for his son.

And in tight-knit com­mu­nities across Ame­rica, fathers and mothers will tuck in their kids, put an arm around their spouse, remem­ber fal­len com­ra­des, and give thanks for being home from a war that, after twelve long years, is finally com­ing to an end.

In kur­zen Spots wird hier mit­ten ins Leben geschaut. Dem Hörer wird bild­lich vor Augen geführt, dass Ame­rika nach fünf Jah­ren Obama ein guter Ort zum Leben ist. Zum Ver­gleich: Bei Mer­kel heißt es dazu Heute kön­nen wir fest­stel­len: Deutsch­land geht es so gut wie lange nicht. So läuft das: In Ame­rika wird Glück erlebt, in Deutsch­land wird es fest­ge­stellt. Oder kann es fest­ge­stellt wer­den, wenn es denn nicht zu viel Umstände macht, immer­hin räumt uns die Bun­des­kanz­le­rin die Mög­lich­keit dazu ein, also jeder wie er mag.

Im Ver­gleich dazu umgar­nen Oba­mas Reden­schrei­ber die Hörer mit Anschau­lich­keit. Sie sind dabei noch nicht mal revo­lu­tio­när, son­der wäh­len in guter rhe­to­ri­scher Tra­di­tion einen klas­si­schen Ein­stieg a loco, also abge­lei­tet vom Ort der gehal­te­nen Rede. Man kennt das: „Meine Damen und Her­ren, wer an die­sem Ort eine Rede hält, der denkt sofort an…“ In die­sem Fall ist die­ser Ort aber nicht das Kapi­tol in Washing­ton, son­dern — das ist der legi­time Anspruch der State — ganz Ame­rika. Adres­sat ist dem­ent­spre­chend auch nicht etwa der Kon­gress, son­dern das gesamte Volk:

Tonight, this cham­ber speaks with one voice to the people we rep­re­sent: it is you, our citi­zens, who make the state of our union strong.

Das ist sicher­lich prä­si­dia­ler Pathos, aber ange­sichts der Gra­ben­kämpfe zwi­schen Prä­si­dent und repu­bli­ka­ni­schem Kon­gress auch eine sehr ele­gante Art zu zei­gen, wer in der Poli­tik das Sagen hat.

Es ist außer­dem eine schlaue Demut­s­adresse. Nicht der Prä­si­dent, son­dern das Volk hat diese Leis­tung erbracht. So heißt es anschlie­ßend: Here are the results of your efforts und es folgt eine knappe Zusam­men­fas­sung erfreu­li­cher Ent­wick­lun­gen, abge­schlos­sen mit der Feststellung:

After five years of grit and deter­mined effort, the United Sta­tes is better-positioned for the 21st cen­tury than any other nation on Earth.

Aber kein Rechen­schafts­be­richt wäre kom­plett ohne Pro­bleme und Her­aus­for­de­run­gen, die es noch zu meis­tern gilt. Die gibt es, doch:

The ques­tion for ever­yone in this cham­ber, run­ning through every deci­sion we make this year, is whe­ther we are going to help or hin­der this progress.

Es folgt auch hier eine Zusam­men­fas­sung der Pro­bleme, die die Kon­gress­blo­ckade der letz­ten Monate ver­ur­sacht hat: Still­stand, Ver­trau­ens­schwund und soziale Unge­rech­tig­keit. Obama nennt hier zum ers­ten Mal das Leit­mo­tiv sei­ner Rede beim Namen: Oppor­tu­nity — das urame­ri­ka­ni­sche Ideal der unbe­grenz­ten Möglichkeit.

And what I believe unites the people of this nation, regard­less of race or region or party, young or old, rich or poor, is the sim­ple, pro­found belief in oppor­tu­nity for all – the notion that if you work hard and take responsi­bi­lity, you can get ahead in America.

Genau die­ses Ideal sieht Obama jedoch durch die repu­bli­ka­ni­schen Hard­li­ner im Kon­gress bedroht. Des­halb möchte er im Sinne sei­ner ver­fas­sungs­recht­li­chen Ver­pflich­tung (s.o.) nun ver­schie­dene mea­su­res prä­sen­tie­ren, die er für necessary und expe­dient hält:

What I offer tonight is a set of con­crete, prac­tical pro­po­sals to speed up growth, strengt­hen the middle class, and build new lad­ders of oppor­tu­nity into the middle class.

Das ist — ganz klas­sisch rhe­to­risch — auch eine soge­nannte pro­po­si­tio, eine kurze Vor­weg­nahme des Fol­gen­den. Er schließt dabei unge­wöhn­lich autoritär:

But Ame­rica does not stand still – and neit­her will I. So whe­re­ver and whe­ne­ver I can take steps wit­hout legis­la­tion to expand oppor­tu­nity for more Ame­ri­can fami­lies, that’s what I’m going to do.

Das Audi­to­rium ist nun pas­send vor­be­rei­tet. Obama hat die Aus­gangs­lage erläu­tert und seine Ziele genannt, dabei Auf­merk­sam­keit erregt, den Inhalt vor­be­rei­tet und das ame­ri­ka­ni­sche Volk wohl­wol­lend gestimmt.

Erzäh­lung

Der Ein­lei­tung folgt in klas­si­scher Struk­tur die nar­ra­tio, eine Erzäh­lung, die das Leit­mo­tiv der Rede erklärt und zum eigent­lich Thema hin­lei­tet. Auch das gelingt, und zwar mit Charme: As usual, our First Lady sets a good example. Es wird ein Wohl­tä­tig­keits­pro­jekt zum sozia­len Auf­stieg von Michelle Obama und Jill Biden vor­ge­stellt, das Chan­cen­gleich­heit ver­spricht und bei­spiel­haft für poli­ti­sche Arbeit im Dienste des ame­ri­ka­ni­schen Traums steht:

The point is, there are mil­li­ons of Ame­ri­cans outs­ide Washing­ton who are tired of stale poli­ti­cal argu­ments, and are moving this coun­try for­ward. They believe, and I believe, that here in Ame­rica, our suc­cess should depend not on acci­dent of birth, but the strength of our work ethic and the scope of our dreams. That’s what drew our fore­be­ars here.

Nun wer­den drei Anwe­sende ange­spro­chen, um in der Sache ganz beim Publi­kum zu bleiben:

It’s how the daugh­ter of a fac­tory worker is CEO of America’s lar­gest auto­ma­ker; how the son of a bar­kee­per is Speaker of the House; how the son of a sin­gle mom can be Pre­si­dent of the grea­test nation on Earth.

Der gesam­melte Applaus ist Obama sicher. Er hat dabei nicht nur die Repu­bli­ka­ner an Bord, die den Auf­stieg ihres Speakers John Boeh­ner wür­di­gen, son­dern natür­lich auch die eige­nen Demo­kra­ten. Im Klang die­ses Jubels for­mu­liert Obama seine zen­trale These:

Oppor­tu­nity is who we are.  And the defi­ning pro­ject of our gene­ra­tion is to res­tore that promise.

Der Span­nungs­bo­gen funk­tio­niert, die zuge­spitzte Bot­schaft sei­ner Rede sitzt wie das Sah­ne­häub­chen auf einem gro­ßen patrio­ti­schen Eisbecher.

Sach­teil

Damit ist der Boden für die Sache berei­tet. Es folgt also der Trak­tat, der umfang­rei­che Sach­teil der Rede. Obama behan­delt jetzt eine Viel­zahl poli­ti­scher Maß­nah­men, die aber sinn­voll zusam­men­ge­fasst wer­den: Erst Wirt­schafts­po­li­tik, dann Sozi­al­po­li­tik, schließ­lich Außenpolitik.

Zunächst <a href=„http://en.wikipedia.org/wiki/It“ onclick=„_gaq.push([’_trackEvent‘, ‚outbound-article‘, ‚http://en.wikipedia.org/wiki/It‘, ‚the eco­nomy, stu­pid‘]);“ title=„Wikipedia: It’s the eco­nomy, stu­pid“ s_the_economy,_stupid“>the eco­nomy, stupid. Hier geht es um Steu­er­re­form, Inves­ti­tio­nen, Frei­han­del, Inno­va­tio­nen und Ener­gie­po­li­tik, im Wort­sinne als Treib­stoff der Wirt­schaft. Anschlie­ßend, was den deut­schen Sopo überrascht:

Finally, if we are serious about eco­no­mic growth, it is time to heed the call of busi­ness lea­ders, labor lea­ders, faith lea­ders, and law enforce­ment – and fix our bro­ken immi­gra­tion system.

Migra­tion als wirt­schafts­po­li­ti­sches Pro­blem zu begrei­fen — das ist sehr anglo-amerikanisch, aber wohl auch im Sinne der über­par­tei­li­chen Eini­gung ein ver­söh­nen­des Argument.

And for good rea­son: when people come here to ful­fill their dreams – to study, invent, and con­tri­bute to our cul­ture – they make our coun­try a more attrac­tive place for busi­nes­ses to locate and create jobs for everyone.

Die­ser Hin­weis auf die Arbeits­plätze beschließt das Wirt­schafts­seg­ment in Form von zwei klei­nen Geschich­ten, wie­der aus der Mitte Ame­ri­kas: Die Erfolgs­ge­schichte einer Unter­neh­mens­grün­de­rin in Detroit und das Arbeits­lo­sen­schick­sal einer sor­gen­den Mut­ter. Obama nutzt das nahe lie­gende Pathos, um die Zuhö­rer zu bewe­gen — movere, wie auch Cicero schon for­dert, wenn es um mensch­li­che Schick­sale geht. Vor allem die Geschichte der arbeits­lo­sen Frau, die in einem Brief vom Prä­si­den­ten trot­zig eine zweite Chance ver­langt hatte, gibt Anlass für einen ein­dring­li­chen Appell:

Con­gress, give these hard­wor­king, responsi­ble Ame­ri­cans that chance. They need our help, but more import­ant, this coun­try needs them in the game.

Und ja: Hier schim­mert Ken­ne­dys berühm­tes Dik­tum der staats­bür­ger­li­chen Ver­ant­wor­tung durch die Zei­len. Die Über­lei­tung von hier zur Sozi­al­po­li­tik fällt Hörern und Schrei­bern leicht:

Of course, it’s not enough to train today’s work­force. We also have to pre­pare tomorrow’s work­force, by gua­ran­te­e­ing every child access to a world-class education.

Auch das wird mit einer Geschichte ver­an­schau­licht, und zwar durch die erfolg­rei­che Bil­dungs­bio­gra­phie eines latein­ame­ri­ka­ni­schen Ein­wan­de­rers aus New York. Es folgt ein Auf­ruf zur Bil­dungs­re­form, zum Breit­band­aus­bau und zur Aus­bil­dungs­för­de­rung. Dem folgt ein lei­den­schaft­li­ches Plä­do­yer für die Gleich­stel­lung, das in sei­ner Klar­heit und Über­zeu­gungs­kraft völ­lig zu Recht den lau­tes­ten Jubel des Abends erntete:

Today, women make up about half our work­force. But they still make 77 cents for every dol­lar a man earns. That is wrong, and in 2014, it’s an embar­rass­ment. A woman deser­ves equal pay for equal work. She deser­ves to have a baby wit­hout sacri­fi­cing her job. A mother deser­ves a day off to care for a sick child or sick par­ent wit­hout run­ning into hardship – and you know what, a father does, too. It’s time to do away with work­place poli­cies that belong in a “Mad Men” epi­sode. This year, let’s all come toge­ther – Con­gress, the White House, and busi­nes­ses from Wall Street to Main Street – to give every woman the oppor­tu­nity she deser­ves. Because I firmly believe when women suc­ceed, Ame­rica succeeds.

Wer würde im deut­schen Bun­des­tag schon eine „Mad Men“-Referenz wagen? Ver­mut­lich die wenigs­ten, weil popu­läre Kul­tur den meis­ten als unse­riös gilt.

Obama erwei­tert jetzt den Fokus unge­rech­ter Bezah­lung und spricht vom all­ge­mei­nen Min­dest­lohn. Auch das wird durch eine Geschichte ver­an­schau­licht: Ein Piz­za­bä­cker aus Min­nea­po­lis zahlt sei­nen Ange­stell­ten frei­wil­lig das gerechte Gehalt — und sitzt des­halb wäh­rend der Rede auf der Ehren­tri­büne. Auch hier ist der Appell klar:

Of course, to reach mil­li­ons more, Con­gress needs to get on board.

Nun wird die Sozi­al­ver­si­che­run­gen abge­han­delt, dabei natür­lich auch Oba­ma­care, das wie­der mit einer kur­zen Geschichte über eine gesun­dete Arbei­te­rin ver­an­schau­licht wird. Hier bie­tet sich natür­lich Schelte an, dies­mal mit lei­ser Ironie:

Now, I don’t expect to con­vince my Repu­bli­can fri­ends on the merits of this law.

Obama schafft es aber auch hier über­par­tei­lich zu wer­den: Er ver­weist auf den repu­bli­ka­ni­schen Gou­ver­neur von Ken­tu­cky — not the most libe­ral part of the coun­try - der aus Grün­den der soli­da­ri­schen Ver­bun­den­heit für die Kran­ken­ver­si­che­rung gestimmt hat. Und damit ist er bei einem Unter­thema der Sozi­al­po­li­tik: Citizenship.

It’s the spi­rit of citi­zenship – the reco­gni­tion that through hard work and responsi­bi­lity, we can pur­sue our indi­vi­dual dreams, but still come toge­ther as one Ame­ri­can family to make sure the next gene­ra­tion can pur­sue its dreams as well.

Mit einer wir­kungs­vol­len Wort­fi­gur beschließt Obama die Sozi­al­po­li­tik: Durch Merisma (gedank­li­che Auf­tei­lung) und Ana­pher (ein­läu­ten­den Wort­wie­der­ho­lung) erläu­tert Obama am Gedan­ken des Citi­zenship seine Ein­stel­lung zu Wahl­recht, Waf­fen­recht und Gemeinschaftssinn.

Citi­zenship means stan­ding up for everyone’s right to vote.
[…]
Citi­zenship means stan­ding up for the lives that gun vio­lence ste­als from us each day.
[…]
Citi­zenship demands a sense of com­mon cause;

Der Dienst am Gemein­wohl ist eine pas­sende Über­lei­tung zur Armee, und damit ist Obama beim drit­ten Block des Sach­teils, der Außen­po­li­tik. Er gibt einen Über­blick über die Kriegs– und Kon­flikt­schau­plätze mit ame­ri­ka­ni­scher Betei­li­gung, wobei hier vor allem der patrio­ti­sche Dienst der ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten im Mit­tel­punkt steht. In die­sem Zug wer­den auch die The­men­fel­der Droh­nen und Spio­nage kurz abge­han­delt, nur um — sehr geschickt — anschlie­ßend ein Lob­lied auf die mul­ti­la­te­rale Diplo­ma­tie zu sin­gen, als Ver­hin­de­rin von Krie­gen. Hier ver­tei­digt Obama auch sehr gelun­gen seine Ver­hand­lun­gen mit dem Iran:

If John F. Ken­nedy and Ronald Rea­gan could nego­tiate with the Soviet Union, then surely a strong and con­fi­dent Ame­rica can nego­tiate with less power­ful adversa­ries today.

Die impe­riale Außen­po­li­tik Ame­ri­kas wird dar­auf­hin in vie­len Aspek­ten beleuch­tet und in die­sem Sinne auch als Mit­tel prä­sen­tiert, über­all auf der Welt Gutes zu tun und huma­ni­täre Hilfe zu leisten:

Finally, let’s remem­ber that our lea­dership is defined not just by our defense against thre­ats, but by the enor­mous oppor­tu­nities to do good and pro­mote under­stan­ding around the globe.

In die­sem Sinne wid­met Obama sich abschlie­ßend noch ein­mal der Armee als Gehil­fen die­ser Agenda und run­det den Teil über Außen­po­li­tik, und damit auch den gro­ßen Sach­teil der Rede mit einer ein­drucks­vol­len Geschichte ab: Er erzählt vom Army Ran­ger Cory Rems­burg, der durch eine Kopf­ver­wun­dung lange im Koma lag und sich nur müh­sam ins Leben zurück­ge­kämpft hat. Obama geht ins Detail, fes­selt die Hörer mit dem har­ten Schick­sal des Sol­da­ten und endet schließ­lich mit einer pas­sen­den Moral:

“My reco­very has not been easy,” he says. “Not­hing in life that’s worth anything is easy.”

Cory is here tonight. And like the Army he loves, like the Ame­rica he ser­ves, Ser­geant First Class Cory Rems­burg never gives up, and he does not quit.

Der sicht­lich vom Krieg gezeich­nete Sol­dat und die auf­wüh­lende Geschichte ver­feh­len nicht ihre Wir­kung. Das gesamte Haus erhebt sich und auch der Prä­si­dent selbst applau­diert dem Vete­ra­nen auf der Ehren­tri­büne, meh­rere Minu­ten lang.

Schluss

Nach die­sem gro­ßen Applaus ist der lange Sach­teil been­det, es folgt ein rela­tiv kur­zer Schluss. Aber wo Obama sonst für gewöhn­lich ein rhe­to­ri­sches Feu­er­werk abbrennt und sei­nen Appell in ener­gi­sche, pathos­ge­schwän­gerte Satz­kas­ka­den klei­det, wird er an die­ser Stelle ganz ruhig und nimmt die Ergrif­fen­heit über das Sol­da­ten­schick­sal mit in sein Resümee:

My fel­low Ame­ri­cans, men and women like Cory remind us that Ame­rica has never come easy.  Our free­dom, our demo­cracy, has never been easy.  Some­ti­mes we stum­ble; we make mis­ta­kes; we get frus­tra­ted or discouraged.

But for more than two hund­red years, we have put those things aside and pla­ced our collec­tive shoul­der to the wheel of pro­gress – to create and build and expand the pos­si­bi­li­ties of indi­vi­dual achie­ve­ment; to free other nati­ons from tyranny and fear; to pro­mote justice, and fair­ness, and equa­lity under the law, so that the words set to paper by our foun­ders are made real for every citizen.

The Ame­rica we want for our kids – a rising Ame­rica where honest work is ple­nti­ful and com­mu­nities are strong; where pros­pe­rity is widely shared and oppor­tu­nity for all lets us go as far as our dreams and toil will take us – none of it is easy.  But if we work toge­ther; if we sum­mon what is best in us, with our feet plan­ted firmly in today but our eyes cast towards tomor­row – I know it’s wit­hin our reach.

Believe it.

Damit ist die große Rede zur Lage der Nation been­det, nicht auf lau­tem Hurra, son­dern auf einer lei­sen Note der Hoff­nung — das zen­trale Motiv Oba­mas Präsidentschaft.

Gutes Hand­werk

Es ist eine große Leis­tung der Reden­schrei­ber, dass man diese ganze Stunde gebannt zuhö­ren kann. Es ist aber auch kein Hexen­werk. Die Auto­ren befol­gen nur kon­se­quent alle rhe­to­ri­schen Rat­schläge, die man seit 2000 Jah­ren bei ein­schlä­gi­gen Auto­ren wie Aris­to­te­les, Cicero oder Quin­ti­lian und mei­net­we­gen auch bei spä­te­ren Abschrei­bern nach­le­sen kann. Dort steht unmiss­ver­ständ­lich, dass eine gute Rede nicht nur beleh­ren, son­dern auch bewe­gen und unter­hal­ten muss. Dass eine gute Ein­lei­tung die Hörer emp­fäng­lich macht und des­halb schon die halbe Miete ist. Dass über Schick­sale und Sach­ver­halte in unter­schied­li­chen Stil­hö­hen geschrie­ben wer­den muss. Und dass die Struk­tur einer Rede für ihren Erfolg ent­schei­dend ist: in die­sem Fall eine zusam­men­fas­sende Ein­lei­tung, eine unter­hal­tende Erzäh­lung, ein beleh­ren­der Sach­teil und ein bewe­gen­der Schluss.

Wenn die Regie­rungs­er­klä­rung in Deutsch­land die Men­schen also tat­säch­lich wie­der errei­chen soll, dann muss das Hand­werk bes­ser wer­den. Die­ses Hand­werk heißt aber nicht Poli­tik, son­dern Rhe­to­rik. Dazu muss man sich in den Büros im Kanz­ler­amt wie­der in die Lage ande­rer ver­set­zen. Hel­mut Schmidt arbei­tet ja lei­der nicht mehr dort.