Die Lage zur Rede der Nation
von Daniel am 06.02.2014
Beinahe hätte es diesen Artikel nicht gegeben. Auf dem Plan stand eigentlich eine strukturelle Analyse der Regierungserklärung Angela Merkels, die sie vergangenen Mittwoch im Bundestag abgegeben hat. Leider bin ich nach fünfzehn Minuten eingeschlafen.
Das ist kein sprachlicher Allgemeinplatz. Ich bin tatsächlich eingeschlafen, wenn auch nur kurz. Die bleiernen Substantive der Kanzlerin haben mich geschafft. In der Nachmittagsschwere ein aussichtsloser Kampf. Mehr Langeweile wagen
kommentierte die Süddeutsche Zeitung, und ich stelle fest: Dieses Wagnis ist die Kanzlerin eingegangen, mit sichtbarem Erfolg.
Ein guter Grund, um über politische Rhetorik zu schreiben, denn das Wortspiel entlarvt die ganze Dimension des rhetorischen Dämmers. Wir denken sofort an das knarzige Pathos von Willy Brandts Wir wollen mehr Demokratie wagen
, ein zentraler Satz seiner ersten Regierungserklärung im Jahr 1969.
Nicht jede Regierungserklärung muss dieses Niveau halten. Aber man könnte es ja zumindest versuchen, wenn schon nicht mit Pathos, dann immerhin mit Originalität. Unvergessen hier Helmut Schmidt, der sich in der Regierungserklärung von 1976 über seine Wasserrechnung ärgert und dafür von Loriot verewigt wurde. Schmidt beschließt seine Auslassungen mit den zeitlos richtigen Worten: Das hat damit zu tun, dass es in den Büros, die das machen, Leute gibt, die sich nicht in die Lage anderer versetzen.
So auch im Kanzleramt.
Die wichtigste politische Rede der Welt
Im Ausland ist man da mutiger. Hier entfalten Regierungserklärungen eine enorme rhetorische Kraft, die einer Ära ihren Stempel aufdrücken: Das blood, sweat & tears
Winston Churchills etwa, oder John F. Kennedys ask what you can do for your country
. Man muss aber auch gar nicht auf diese historischen Filetstücke schauen. Es reicht ein Blick auf die tags zuvor gehaltene Rede Barack Obamas zur Lage der Nation.
Zugegeben: Die State of the Union ist die wichtigste politische Rede der Welt, der Super Bowl präsidialer Präsentation und die Champions League des Redenschreibens. Im Gegensatz zur bundesrepublikanischen Regierungserklärung wird sie vom Präsidenten sogar verfassungsmäßig eingefordert:
He shall from time to time give to Congress information of the State of the Union and recommend to their Consideration such measures as he shall judge necessary and expedient.
— Art. II, § 3
Das unterscheidet sie fundamental von ihrem deutschen Pendant: Während diese eher als Maßnahme zur Koalitionsdisziplin dient, ist jene eine ernstzunehmende Absichtserklärung des Präsidenten — und damit die konkrete Richtungsbestimmung für die kommende Legislaturperiode.
it’s the outline, stupid
Ein Vergleich lohnt aber trotzdem. Nicht beim Redeschmuck und den verwendeten Stilfiguren, auf die Rhetorik für gewöhnlich reduziert wird, sondern in einem Punkt, der für öffentliche Reden sehr viel wichtiger ist: Der Sinnzusammenhang und die Struktur, die sich dem Hörer unmittelbar erschließt. Denn ganz egal, in welchem Rahmen eine Rede gehalten wird — wenn sie gehört werden soll, muss der Hörer nicht nur die Ohren spitzen, sondern auch den Sinn verstehen.
Die Bundeskanzlerin handelt hier sorglos. Die Struktur erschließt sich gerade mal beim Lesen der Rede, aber auch nur dann dem geschulten Auge. Es wird nicht mal der Versuch unternommen, anschaulich zu erzählen oder das Auditorium für die eigene Sache zu begeistern. Man will zwar die Quellen des guten Lebens allen zugänglich machen
, wählt für diesen hohen Anspruch aber den niedersten Beamtenjargon. In den Worten der Süddeutschen Zeitung: Die Kanzlerin verknüpfte Altbekanntes mit Selbstverständlichkeiten — und streute jede Menge Plattitüden ein.
Wenn die State of the Union also dem Super Bowl der Champions League entspricht, ähnelt Merkels Regierungserklärung hier eher dem Freundschaftsspiel des Sportclubs Billerbeck mit der örtlichen Sparkasse.
Was genau macht aber Obamas Rede so gut? Es liegt tatsächlich weniger an den geschliffenen Formulierungen, sondern an der Struktur und der konsequente Anschaulichkeit, mit der die einzelnen Themen erzählt werden. Deshalb schreibe ich jetzt auch nicht mehr über die Regierungserklärung, sondern über die State of the Union, obwohl seitdem schon eine ganze Woche ins Land gegangen ist. Dafür ist sie aber immer noch schön zu hören, vor allem unter klassisch-rhetorischen Gesichtspunkten.
Einleitung
Das beginnt schon mit der Einleitung. Wo Merkel aus aktuellem Anlass, aber völlig zusammenhangslos etwas über die Ukraine erzählt, enthält Obamas Einleitung alles, was schon Cicero und Quintilian für ein gutes Exordium empfehlen: Aufmerksamkeit erregen, den Inhalt vorbereiten und die Hörer wohlwollend stimmen.
Obama macht das gekonnt durch einen Einstieg medias in res, einer Zusammenfassung von Erfolgen und Problemen und schließlich durch einen rhetorischen Kunstgriff, bei dem er nicht nur alle Erfolge dem Volk zuschreibt, sondern dabei auch die Rolle eines Volksdieners einnimmt, der Rechenschaft über seine Arbeit ablegt.
So heißt es direkt zu Beginn der Rede:
Today in America, a teacher spent extra time with a student who needed it, and did her part to lift America’s graduation rate to its highest level in more than three decades.
An entrepreneur flipped on the lights in her tech startup, and did her part to add to the more than eight million new jobs our businesses have created over the past four years.
An autoworker fine-tuned some of the best, most fuel-efficient cars in the world, and did his part to help America wean itself off foreign oil.
A farmer prepared for the spring after the strongest five-year stretch of farm exports in our history.
A rural doctor gave a young child the first prescription to treat asthma that his mother could afford.
A man took the bus home from the graveyard shift, bone-tired but dreaming big dreams for his son.
And in tight-knit communities across America, fathers and mothers will tuck in their kids, put an arm around their spouse, remember fallen comrades, and give thanks for being home from a war that, after twelve long years, is finally coming to an end.
In kurzen Spots wird hier mitten ins Leben geschaut. Dem Hörer wird bildlich vor Augen geführt, dass Amerika nach fünf Jahren Obama ein guter Ort zum Leben ist. Zum Vergleich: Bei Merkel heißt es dazu Heute können wir feststellen: Deutschland geht es so gut wie lange nicht.
So läuft das: In Amerika wird Glück erlebt, in Deutschland wird es festgestellt. Oder kann es festgestellt werden, wenn es denn nicht zu viel Umstände macht, immerhin räumt uns die Bundeskanzlerin die Möglichkeit dazu ein, also jeder wie er mag.
Im Vergleich dazu umgarnen Obamas Redenschreiber die Hörer mit Anschaulichkeit. Sie sind dabei noch nicht mal revolutionär, sonder wählen in guter rhetorischer Tradition einen klassischen Einstieg a loco, also abgeleitet vom Ort der gehaltenen Rede. Man kennt das: „Meine Damen und Herren, wer an diesem Ort eine Rede hält, der denkt sofort an…“ In diesem Fall ist dieser Ort aber nicht das Kapitol in Washington, sondern — das ist der legitime Anspruch der State — ganz Amerika. Adressat ist dementsprechend auch nicht etwa der Kongress, sondern das gesamte Volk:
Tonight, this chamber speaks with one voice to the people we represent: it is you, our citizens, who make the state of our union strong.
Das ist sicherlich präsidialer Pathos, aber angesichts der Grabenkämpfe zwischen Präsident und republikanischem Kongress auch eine sehr elegante Art zu zeigen, wer in der Politik das Sagen hat.
Es ist außerdem eine schlaue Demutsadresse. Nicht der Präsident, sondern das Volk hat diese Leistung erbracht. So heißt es anschließend: Here are the results of your efforts
und es folgt eine knappe Zusammenfassung erfreulicher Entwicklungen, abgeschlossen mit der Feststellung:
After five years of grit and determined effort, the United States is better-positioned for the 21st century than any other nation on Earth.
Aber kein Rechenschaftsbericht wäre komplett ohne Probleme und Herausforderungen, die es noch zu meistern gilt. Die gibt es, doch:
The question for everyone in this chamber, running through every decision we make this year, is whether we are going to help or hinder this progress.
Es folgt auch hier eine Zusammenfassung der Probleme, die die Kongressblockade der letzten Monate verursacht hat: Stillstand, Vertrauensschwund und soziale Ungerechtigkeit. Obama nennt hier zum ersten Mal das Leitmotiv seiner Rede beim Namen: Opportunity — das uramerikanische Ideal der unbegrenzten Möglichkeit.
And what I believe unites the people of this nation, regardless of race or region or party, young or old, rich or poor, is the simple, profound belief in opportunity for all – the notion that if you work hard and take responsibility, you can get ahead in America.
Genau dieses Ideal sieht Obama jedoch durch die republikanischen Hardliner im Kongress bedroht. Deshalb möchte er im Sinne seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung (s.o.) nun verschiedene measures präsentieren, die er für necessary und expedient hält:
What I offer tonight is a set of concrete, practical proposals to speed up growth, strengthen the middle class, and build new ladders of opportunity into the middle class.
Das ist — ganz klassisch rhetorisch — auch eine sogenannte propositio, eine kurze Vorwegnahme des Folgenden. Er schließt dabei ungewöhnlich autoritär:
But America does not stand still – and neither will I. So wherever and whenever I can take steps without legislation to expand opportunity for more American families, that’s what I’m going to do.
Das Auditorium ist nun passend vorbereitet. Obama hat die Ausgangslage erläutert und seine Ziele genannt, dabei Aufmerksamkeit erregt, den Inhalt vorbereitet und das amerikanische Volk wohlwollend gestimmt.
Erzählung
Der Einleitung folgt in klassischer Struktur die narratio, eine Erzählung, die das Leitmotiv der Rede erklärt und zum eigentlich Thema hinleitet. Auch das gelingt, und zwar mit Charme: As usual, our First Lady sets a good example.
Es wird ein Wohltätigkeitsprojekt zum sozialen Aufstieg von Michelle Obama und Jill Biden vorgestellt, das Chancengleichheit verspricht und beispielhaft für politische Arbeit im Dienste des amerikanischen Traums steht:
The point is, there are millions of Americans outside Washington who are tired of stale political arguments, and are moving this country forward. They believe, and I believe, that here in America, our success should depend not on accident of birth, but the strength of our work ethic and the scope of our dreams. That’s what drew our forebears here.
Nun werden drei Anwesende angesprochen, um in der Sache ganz beim Publikum zu bleiben:
It’s how the daughter of a factory worker is CEO of America’s largest automaker; how the son of a barkeeper is Speaker of the House; how the son of a single mom can be President of the greatest nation on Earth.
Der gesammelte Applaus ist Obama sicher. Er hat dabei nicht nur die Republikaner an Bord, die den Aufstieg ihres Speakers John Boehner würdigen, sondern natürlich auch die eigenen Demokraten. Im Klang dieses Jubels formuliert Obama seine zentrale These:
Opportunity is who we are. And the defining project of our generation is to restore that promise.
Der Spannungsbogen funktioniert, die zugespitzte Botschaft seiner Rede sitzt wie das Sahnehäubchen auf einem großen patriotischen Eisbecher.
Sachteil
Damit ist der Boden für die Sache bereitet. Es folgt also der Traktat, der umfangreiche Sachteil der Rede. Obama behandelt jetzt eine Vielzahl politischer Maßnahmen, die aber sinnvoll zusammengefasst werden: Erst Wirtschaftspolitik, dann Sozialpolitik, schließlich Außenpolitik.
Zunächst <a href=„http://en.wikipedia.org/wiki/It“ onclick=„_gaq.push([’_trackEvent‘, ‚outbound-article‘, ‚http://en.wikipedia.org/wiki/It‘, ‚the economy, stupid‘]);“ title=„Wikipedia: It’s the economy, stupid“ s_the_economy,_stupid“>the economy, stupid. Hier geht es um Steuerreform, Investitionen, Freihandel, Innovationen und Energiepolitik, im Wortsinne als Treibstoff der Wirtschaft. Anschließend, was den deutschen Sopo überrascht:
Finally, if we are serious about economic growth, it is time to heed the call of business leaders, labor leaders, faith leaders, and law enforcement – and fix our broken immigration system.
Migration als wirtschaftspolitisches Problem zu begreifen — das ist sehr anglo-amerikanisch, aber wohl auch im Sinne der überparteilichen Einigung ein versöhnendes Argument.
And for good reason: when people come here to fulfill their dreams – to study, invent, and contribute to our culture – they make our country a more attractive place for businesses to locate and create jobs for everyone.
Dieser Hinweis auf die Arbeitsplätze beschließt das Wirtschaftssegment in Form von zwei kleinen Geschichten, wieder aus der Mitte Amerikas: Die Erfolgsgeschichte einer Unternehmensgründerin in Detroit und das Arbeitslosenschicksal einer sorgenden Mutter. Obama nutzt das nahe liegende Pathos, um die Zuhörer zu bewegen — movere, wie auch Cicero schon fordert, wenn es um menschliche Schicksale geht. Vor allem die Geschichte der arbeitslosen Frau, die in einem Brief vom Präsidenten trotzig eine zweite Chance verlangt hatte, gibt Anlass für einen eindringlichen Appell:
Congress, give these hardworking, responsible Americans that chance. They need our help, but more important, this country needs them in the game.
Und ja: Hier schimmert Kennedys berühmtes Diktum der staatsbürgerlichen Verantwortung durch die Zeilen. Die Überleitung von hier zur Sozialpolitik fällt Hörern und Schreibern leicht:
Of course, it’s not enough to train today’s workforce. We also have to prepare tomorrow’s workforce, by guaranteeing every child access to a world-class education.
Auch das wird mit einer Geschichte veranschaulicht, und zwar durch die erfolgreiche Bildungsbiographie eines lateinamerikanischen Einwanderers aus New York. Es folgt ein Aufruf zur Bildungsreform, zum Breitbandausbau und zur Ausbildungsförderung. Dem folgt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Gleichstellung, das in seiner Klarheit und Überzeugungskraft völlig zu Recht den lautesten Jubel des Abends erntete:
Today, women make up about half our workforce. But they still make 77 cents for every dollar a man earns. That is wrong, and in 2014, it’s an embarrassment. A woman deserves equal pay for equal work. She deserves to have a baby without sacrificing her job. A mother deserves a day off to care for a sick child or sick parent without running into hardship – and you know what, a father does, too. It’s time to do away with workplace policies that belong in a “Mad Men” episode. This year, let’s all come together – Congress, the White House, and businesses from Wall Street to Main Street – to give every woman the opportunity she deserves. Because I firmly believe when women succeed, America succeeds.
Wer würde im deutschen Bundestag schon eine „Mad Men“-Referenz wagen? Vermutlich die wenigsten, weil populäre Kultur den meisten als unseriös gilt.
Obama erweitert jetzt den Fokus ungerechter Bezahlung und spricht vom allgemeinen Mindestlohn. Auch das wird durch eine Geschichte veranschaulicht: Ein Pizzabäcker aus Minneapolis zahlt seinen Angestellten freiwillig das gerechte Gehalt — und sitzt deshalb während der Rede auf der Ehrentribüne. Auch hier ist der Appell klar:
Of course, to reach millions more, Congress needs to get on board.
Nun wird die Sozialversicherungen abgehandelt, dabei natürlich auch Obamacare, das wieder mit einer kurzen Geschichte über eine gesundete Arbeiterin veranschaulicht wird. Hier bietet sich natürlich Schelte an, diesmal mit leiser Ironie:
Now, I don’t expect to convince my Republican friends on the merits of this law.
Obama schafft es aber auch hier überparteilich zu werden: Er verweist auf den republikanischen Gouverneur von Kentucky — not the most liberal part of the country
- der aus Gründen der solidarischen Verbundenheit für die Krankenversicherung gestimmt hat. Und damit ist er bei einem Unterthema der Sozialpolitik: Citizenship.
It’s the spirit of citizenship – the recognition that through hard work and responsibility, we can pursue our individual dreams, but still come together as one American family to make sure the next generation can pursue its dreams as well.
Mit einer wirkungsvollen Wortfigur beschließt Obama die Sozialpolitik: Durch Merisma (gedankliche Aufteilung) und Anapher (einläutenden Wortwiederholung) erläutert Obama am Gedanken des Citizenship seine Einstellung zu Wahlrecht, Waffenrecht und Gemeinschaftssinn.
Citizenship means standing up for everyone’s right to vote.
[…]
Citizenship means standing up for the lives that gun violence steals from us each day.
[…]
Citizenship demands a sense of common cause;
Der Dienst am Gemeinwohl ist eine passende Überleitung zur Armee, und damit ist Obama beim dritten Block des Sachteils, der Außenpolitik. Er gibt einen Überblick über die Kriegs– und Konfliktschauplätze mit amerikanischer Beteiligung, wobei hier vor allem der patriotische Dienst der amerikanischen Soldaten im Mittelpunkt steht. In diesem Zug werden auch die Themenfelder Drohnen und Spionage kurz abgehandelt, nur um — sehr geschickt — anschließend ein Loblied auf die multilaterale Diplomatie zu singen, als Verhinderin von Kriegen. Hier verteidigt Obama auch sehr gelungen seine Verhandlungen mit dem Iran:
If John F. Kennedy and Ronald Reagan could negotiate with the Soviet Union, then surely a strong and confident America can negotiate with less powerful adversaries today.
Die imperiale Außenpolitik Amerikas wird daraufhin in vielen Aspekten beleuchtet und in diesem Sinne auch als Mittel präsentiert, überall auf der Welt Gutes zu tun und humanitäre Hilfe zu leisten:
Finally, let’s remember that our leadership is defined not just by our defense against threats, but by the enormous opportunities to do good and promote understanding around the globe.
In diesem Sinne widmet Obama sich abschließend noch einmal der Armee als Gehilfen dieser Agenda und rundet den Teil über Außenpolitik, und damit auch den großen Sachteil der Rede mit einer eindrucksvollen Geschichte ab: Er erzählt vom Army Ranger Cory Remsburg, der durch eine Kopfverwundung lange im Koma lag und sich nur mühsam ins Leben zurückgekämpft hat. Obama geht ins Detail, fesselt die Hörer mit dem harten Schicksal des Soldaten und endet schließlich mit einer passenden Moral:
“My recovery has not been easy,” he says. “Nothing in life that’s worth anything is easy.”
Cory is here tonight. And like the Army he loves, like the America he serves, Sergeant First Class Cory Remsburg never gives up, and he does not quit.
Der sichtlich vom Krieg gezeichnete Soldat und die aufwühlende Geschichte verfehlen nicht ihre Wirkung. Das gesamte Haus erhebt sich und auch der Präsident selbst applaudiert dem Veteranen auf der Ehrentribüne, mehrere Minuten lang.
Schluss
Nach diesem großen Applaus ist der lange Sachteil beendet, es folgt ein relativ kurzer Schluss. Aber wo Obama sonst für gewöhnlich ein rhetorisches Feuerwerk abbrennt und seinen Appell in energische, pathosgeschwängerte Satzkaskaden kleidet, wird er an dieser Stelle ganz ruhig und nimmt die Ergriffenheit über das Soldatenschicksal mit in sein Resümee:
My fellow Americans, men and women like Cory remind us that America has never come easy. Our freedom, our democracy, has never been easy. Sometimes we stumble; we make mistakes; we get frustrated or discouraged.
But for more than two hundred years, we have put those things aside and placed our collective shoulder to the wheel of progress – to create and build and expand the possibilities of individual achievement; to free other nations from tyranny and fear; to promote justice, and fairness, and equality under the law, so that the words set to paper by our founders are made real for every citizen.
The America we want for our kids – a rising America where honest work is plentiful and communities are strong; where prosperity is widely shared and opportunity for all lets us go as far as our dreams and toil will take us – none of it is easy. But if we work together; if we summon what is best in us, with our feet planted firmly in today but our eyes cast towards tomorrow – I know it’s within our reach.
Believe it.
Damit ist die große Rede zur Lage der Nation beendet, nicht auf lautem Hurra, sondern auf einer leisen Note der Hoffnung — das zentrale Motiv Obamas Präsidentschaft.
Gutes Handwerk
Es ist eine große Leistung der Redenschreiber, dass man diese ganze Stunde gebannt zuhören kann. Es ist aber auch kein Hexenwerk. Die Autoren befolgen nur konsequent alle rhetorischen Ratschläge, die man seit 2000 Jahren bei einschlägigen Autoren wie Aristoteles, Cicero oder Quintilian und meinetwegen auch bei späteren Abschreibern nachlesen kann. Dort steht unmissverständlich, dass eine gute Rede nicht nur belehren, sondern auch bewegen und unterhalten muss. Dass eine gute Einleitung die Hörer empfänglich macht und deshalb schon die halbe Miete ist. Dass über Schicksale und Sachverhalte in unterschiedlichen Stilhöhen geschrieben werden muss. Und dass die Struktur einer Rede für ihren Erfolg entscheidend ist: in diesem Fall eine zusammenfassende Einleitung, eine unterhaltende Erzählung, ein belehrender Sachteil und ein bewegender Schluss.
Wenn die Regierungserklärung in Deutschland die Menschen also tatsächlich wieder erreichen soll, dann muss das Handwerk besser werden. Dieses Handwerk heißt aber nicht Politik, sondern Rhetorik. Dazu muss man sich in den Büros im Kanzleramt wieder in die Lage anderer versetzen. Helmut Schmidt arbeitet ja leider nicht mehr dort.