Ab nach drüben
von Daniel am 11.12.2014
Ich muss jetzt zur CDU. Hat die Genossin aus Thüringen gesagt. Ich will zwar nicht, aber die junge Frau war sehr deutlich: „Wenn Euch die Jusos zu links sind, dann geht doch in die Junge Union!“
Früher hat man die unbequemen Leute auch immer „nach drüben“ schicken wollen, aber das war ja ebenfalls keine Lösung. Immerhin habe ich ein passendes Zitat von einem Unionspolitiker gefunden, mit dem ich diesen Text beginnen kann: „Die Qualität und Substanz einer lebendigen Demokratie ist daran zu erkennen, wie sie mit Minderheiten umgeht.“
Das hat Norbert Lammert gesagt, in einer Rede als Schirmherr des Genç-Preises für deutsch-türkische Versöhnung. Eigentlich ist das Zitat von Mahatma Ghandi, und der spricht von Zivilisation statt von Demokratie, aber das wäre etwas hoch gegriffen. Demokratie und auch Versöhnung passen schon ganz gut.
Der Reihe nach. Ich bin mal wieder auf einen Bundeskongress der Jusos gefahren, diesmal nach Bielefeld. Wollte ich eigentlich nicht mehr, weil mich das letzte Mal so geärgert hat. Außerdem war es ausgerechnet in Ostwestfalen, quasi die Schäl Sick des Münsterlands. Aber da wir Realos auf Bundeskongressen immer einen schweren Stand haben, man viele spannende Leute trifft und auch die große NRW-Delegation hauptsächlich aus netten Menschen besteht, bin ich als Gast angereist.
Und ganz unter uns: So schlimm ist Ostwestfalen gar nicht, auch wenn es zu zwei Dritteln aus Himmelsrichtungen besteht. Auf Roter Erde lässt sich außerdem gut über linke Politik diskutieren. Auch der Bielefelder Stadtplan zeigt sich äußerst sozialdemokratisch: Die große Kongresshalle am Willy-Brandt-Platz, eingerahmt von August-Bebel– und Friedrich-Ebert-Straße.
Nun war aber auch dieses Jahr schnell klar: Richtige Debatten gab es keine, die Jusos haben sich nur ein weiteres Mal dem eigenen Linkssein vergewissert und am Ende ein bisschen gesungen. Das Ergebnis und auch das Abstimmungsverhalten waren mit etwas Hintergrundwissen vorhersehbar: Die realpolitischen Landesverbände Hamburg und Baden-Württemberg haben jede Abstimmung verloren, und auch die pragmatische Fraktion aus NRW wurde regelmäßig niedergestimmt. Das Beschlussbuch ist deshalb auch kein wirklicher Aufgabenzettel geworden, sondern wieder mal eine Art sozialistisches Gesinnungsprotokoll, für das die Tagespolitik nur Stichwortgeber ist. Alles also wie gehabt.
Letztes Jahr habe ich mich darüber geärgert. Dieses Jahr überwiegt die Neugier: Warum ist das so? Was treibt die Leute an? Denn einerseits verträgt sich die Tyrannei der Mehrheit natürlich überhaupt nicht mit den eigenen Werten von Demokratie und Minderheitenschutz. Und andererseits wird wohl auch dem letzten Naivling klar sein, dass die Bundesregierung nun trotz Beschluss weder den Verfassungsschutz abschafft (Antrag I 1), noch sämtliche Drogen legalisiert (Antrag P 8). Auch die Beschlüsse zu Israel oder Russland dürfte man im Auswärtigen Amt kaum als Arbeitsgrundlage in Betracht ziehen. Es wäre also vermutlich halb so wild gewesen, wenn man den Realos hier und da die Hand gereicht hätte.
Hat man aber nicht.
Für mich warf das am Wochenende zwei Fragen auf:
1. Stört dieser Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit niemanden?
2. Warum tut man sich das als Realo überhaupt noch an?
Die erste Antwort ist lang, die zweite dafür erfrischend kurz.
Anspruch und Wirklichkeit
Die Süddeutsche Zeitung hat den Bundeskongress eine „Linke Parallelwelt“ genannt, und das trifft es ganz ohne Häme: Es ist ein sozialer Schutzraum, in dem man sich seiner eigenen Identität vergewissert. Die Jusos sind für viele keine politische Bewegung, sondern eine Jugendkultur; also tatsächlich eine Parallelwelt, in der die Regeln der „Alten Säcke“, wie die Bundesvorsitzende die Koalitionspolitiker immer wieder nannte, außer Kraft gesetzt werden. Im Jargon der sozialwissenschaftlichen Forschung heißt das: Eine politische Subkultur, weil die bestehende Kultur der Älteren den Heranwachsenden in ihrer Adoleszenz keine passenden Ausdrucksmöglichkeiten für das empfundene Lebensgefühl anbietet.
Wenn man neueren Arbeiten zu meiner Generation Glauben schenkt, ist dieses Lebensgefühl vor allem geprägt durch Zukunftsfragen und Unsicherheit – ausgelöst durch die soziale Drift und die Erosion gesellschaftlicher Institutionen, die früheren Generationen noch Sicherheit versprechen konnten.
Der SPD ist dieses Gefühl nicht fremd. Als industrielle und demokratische Revolutionen die Gesellschaft im 19. Jahrhundert auf den Kopf gestellt hatten und Bebel, Lassalle und Liebknecht ihre ersten Reden schwangen, war die Zukunftsangst eine ähnliche – wenn auch auf sehr viel weniger Wohlstand und soziale Sicherheit gegründet.
Eine mögliche Antwort war damals wie heute die sozialistische Utopie: Wenn man sich Karl Kautskys Arbeiten zur Welt von Morgen anschaut, die Ende des 19. Jahrhunderts das Proletariat bewegten, dann fühlt man sich an die alljährlichen Beschlussbücher der Jusos erinnert: Man beschäftigt sich intensiv mit der Zukunft und der wünschenswerten Gesellschaft, spricht aber höchstens abstrakt über den steinigen Weg dorthin, mit all seinen Kompromissen, Rückschlägen und Winkelzügen. Für viele Jusos ist der Bundeskongress genau dieser gemeinsame Traum von der Zukunft – und auch von der grimmen Gegenwart, aus der man zur Sonne, zur Freiheit strebt.
Wenn man die Unbarmherzigkeit und Aggressivität mancher Delegierten gegenüber Andersdenkenden erklären möchte, muss man genau hier ansetzen.
Natürlich bestreitet auch der pragmatische Flügel nicht das Leid der Flüchtlinge, den Terror des Krieges, die Armut der Menschen und die soziale Verantwortung der Gesellschaft. Er hat aber die unangenehme Angewohnheit, bei der Präsentation der idealtypischen Zukunft den Projektor auszuschalten und den Verblendungszusammenhang zu durchstoßen, wie es bei Adorno so schön heißt.
Nur so ist es zu erklären, dass bei aller Rede von Toleranz, Offenheit, Pluralität, Demokratie und Minderheitenschutz der tatsächlichen Realo-Minderheit im Plenum mit gnadenloser Härte die Daseinsberechtigung abgesprochen wird: Man sieht seine selbstgewählte Identität als sozialistischer Revolutionär bedroht, und das im innersten Heiligtum der eigenen Kultur. Genau diese Existenzangst lässt ansonsten friedliche und nette Menschen am Podium plötzlich zu schäumenden Demagogen mutieren, deren Inbrunst jedem promovierten Rheinländer zur Ehre gereicht.
Revolution und Reform
Dabei ist dieser Disput bei den Jusos so alt wie die Partei selbst. Seit ihrer Gründung streiten in der SPD Reformisten und Revolutionäre miteinander: Bernstein gegen Kautsky, Scheidemann gegen Liebknecht junior und später ja auch irgendwie Schröder gegen Lafontaine. Das ist Teil der Historie dieser Partei und auch ihrer Gegenwart.
Ich habe allerdings das Gefühl, dass bei vielen Jusos das Bewusstsein für diese gewachsene Dynamik fehlt. Seit der sogenannten Linkswende im Jahr 1969 definieren die jeweiligen Machthaber ihre Organisation als sozialistischen Richtungsverband am linken Rand der Partei – und dulden keinen Widerspruch.
Das führt natürlich zu einem Problem, denn die Jusos sind ja eigentlich eine breitgefächerte Jugendorganisation. Nicht alle jungen Menschen bis 35 treten in die SPD ein, weil sie Marxisten sind. Oder Sozialisten. Oder besonders linke Sozialdemokraten. Manche treten auch wegen Gerhard Schröder ein, wegen Peer Steinbrück, Olaf Scholz oder Helmut Schmidt. Und deren politische Überzeugung ist dann ganz sicher nicht dort, wo sie die sozialistischen Oberhäupter haben möchten.
Dann wird es schwer für die Neulinge, weil Ihnen keine Möglichkeit der Partizipation geboten wird. Aus diesem Grund hatte sich seinerzeit die Pragmatische Linke gegründet, um zumindest gemeinschaftlich diese randständigen Interessen zu vertreten. Da aber dieser Ansatz den Gleichschritt vom sozialistischen Richtungsverband stört, hat die PL und auch wesensverwandte Politik aus Baden-Württemberg seit jeher einen schweren Stand.
In meinen Augen liegt genau hier auch der Grund für die Überalterung der SPD. Die Jusos funktionieren nicht mehr als Jugendorganisation, sondern sind nur noch das großzügig finanzierte Vehikel einer jungen sozialistischen Clique – die natürlich felsenfest von der Rechtmäßigkeit ihrer Politik überzeugt ist und die SPD am liebsten wieder in die Zeiten vor Godesberg zurücktreiben würde. Das ändert aber natürlich nichts an den Tatsachen: Eine Parteijugend kann kein Richtungsverband sein. Man vereint entweder die gesamte politische Bandbreite seines demografischen Segments, oder man schließt sich als spezifische Interessensgruppe zusammen, so wie es in der Partei einige gibt: Das Forum DL21, den Seeheimer Kreis, das Netzwerk Berlin, früher die Kanalarbeiter und neuerdings die Magdeburger Plattform.
Alle Jahre wieder: Der Richtungsstreit
Letztere war am Samstag dann auch Auslöser des alljährlichen Richtungsstreits, der regelmäßig zu Hasstiraden gegenüber der Realofraktion führt. Vorausgegangen war ein offenes Bekenntnis auf Bundesebene zur Magdeburger Plattform, bei der sich die SPD-Linke nun organisiert. Der Bundesvorstand hatte durch offizielle Kanäle dafür geworben, außerdem mit Verbandsmitteln eine Fahrt zum Gründungskongress der Plattform finanziert – sehr zum Ärger vieler realpolitischer Jusos, die sich mit den Positionen der Parteilinken meist überhaupt nicht identifizieren können. Ein Alternativangebot gab es nicht.
Das Argument in der Debatte war dann zugegebenermaßen ein sehr pragmatisches: Man suche die Nähe zur Parteilinken, weil die beschlossenen Positionen am ehesten mit ihr umsetzbar sind. Das ist zwar kaum zu bestreiten, aber als Grund natürlich vorgeschoben – alle Bundesfunktionäre engagieren sich bei der Plattform, und das aus Überzeugung.
Die Debatte selbst kreiste vor allem um die Rechtmäßigkeit dieser Sache. In meinen Augen war die wichtigste Frage allerdings schon beantwortet: Der Bundesvorstand weiß um die Vielfalt der Mitglieder, schert sich aber nicht darum. Er bedient konsequent das eigene Klientel. Die Bundesvorsitzende Uekermann gehört zu den Traditionalisten, und auch der restliche Vorstand rekrutiert sich ausschließlich aus den beiden linken Strömungen. Andersdenkende werden deshalb ignoriert oder geschasst. Die PL aus NRW zum Beispiel wollte auf dem Kongress einen Infostand organisieren, um ihre Positionen zu erklären und Gesprächsmöglichkeiten abseits der Debatten anzubieten. Man hatte sich zu dieser Öffentlichkeitsarbeit entschlossen, nachdem auf der letzten Landeskonferenz in NRW die Strömungsdynamik beinahe die Veranstaltung gesprengt hatte. Immerhin waren neben zahlreichen Lobbyständen auch der linke Parteiflügel in Form des Forums DL21 vertreten, insofern schien das kein Problem. Der Bundesvorstand lehnte allerdings ab – mit der lapidaren Erklärung, man habe keine Lust darauf.
Überrascht hat es mich nicht, aber ich hatte zumindest einen juristschen Winkelzug erwartet. Stattdessen traf uns die offene Willkür. Was blieb, waren ein paar Flyer – begleitet von hämischen Kommentaren und dem Hinweis, die Leute würden dann ja endlich unsere „wahren Absichten“ erkennen. Mir wurde in diesem Moment klar, wie sehr sich manche Delegierte in Verschwörungstheorien verstricken: Hier die aufrechten Revolutionäre, dort die pragmatischen Feinde der Freiheit mit ihrer unheiligen Agenda.
Juristisch mag das alles bestimmt vertretbar sein, anständig und redlich ist es nicht. Die Bundesfunktionäre verfolgen damit eine Politik der Nulltoleranz, die zwar den eigenen Interessen dient, dabei aber der eigentlichen Verantwortung nicht gerecht wird: Sie repräsentieren nicht die tatsächliche Parteijugend, und sie wollen sie auch nicht repräsentieren. Sie wollen einen sozialistischen Richtungsverband führen, in dem eine ideologische Elite über das Fortkommen der jungen SPD-Mitglieder entscheidet. Und das machen sie seit Jahren sehr erfolgreich. Sucht man einen Grund für den ständig latent kriselnden Zustand der SPD, dann liegt das nicht unwesentlich an diesem Problem: In der Jugendorganisation wird seit Jahren eine Haltung kultiviert, die große Teile der Partei und ihrer Politik ablehnt und verachtet.
Hinter den Kulissen
Aus Sicht eines neutralen Parteimanagers müsste man die Jusos als Jugendorganisation also eigentlich demontieren, weil sie nicht anständig liefert: Der aktive Nachwuchs ist nur eine sozialistische Auslese, radikalisiert in seinen Ansichten und kaum ein Abbild der gesamten Partei.
Aber das wird natürlich nicht geschehen, denn einerseit ist der linke Flügel in der Partei durchaus stark, und andererseits will sich niemand an einer derart historischen Institution verheben. Trotzdem: Wäre die SPD ein maroder Fußballverein, würde man sicher erstmal die Nachwuchsarbeit reformieren. Dribbelkünste allein nützen wenig, man muss auch Tore schießen können.
Ich glaube allerdings, dass sich nur wenige Bundesfunktionäre tatsächlich so leidenschaftlich mit dem alle Jahre wieder beschlossenen Umstürzlertum identifizieren, wie sie es vorgeben. Sie bedienen die dominante Fraktion, um voran zu kommen. Auch hier zeigt sich ein Auseinandertreten zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Viele haben vergleichsmäßig gut bezahlte Referentenstellen im politischen Betrieb und exekutieren in dieser Funktion genau jene Politik, die sie auf der Bühne dann mit revolutionsromantischer Geste verteufeln.
Man sieht das gut an der Bundesvorsitzenden selbst: Der Arbeitgeber von Johanna Uekermann ist Axel Schäfer, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Fraktionschef der SPD. Schäfer ist zwar Mitglied der Parlamentarischen Linken, hat als Teil der Regierungskoalition aber für zahlreiche Bundeswehreinsätze im Ausland votiert und außerdem einen Antrag der Grünen abgelehnt, der die Einberufung der berüchtigten Schiedsgerichte im Rahmen des transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP verhindern sollte. Das alles waren sicher gut begründete Entscheidungen – sie stehen allerdings der offiziellen Juso-Rhetorik diametral entgegen. Mehr als das: Als Referentin arbeitet Uekermann vermutlich an genau jenen Reden und Artikeln, mit denen Schäfer seine Entscheidungen begründet – nur um dieses Wahlverhalten dann in der Presse und am Podium als „Anbiederung an die sogenannte Mitte“ zu geißeln.
Man kann allerdings wohl davon ausgehen, dass beide sich über diese Diskrepanz unterhalten haben. Der eine wird als erfahrener Parlamentarier um die besondere Folklore der Jusos wissen, die andere wird als Arbeitnehmerin ihren Brötchengeber nicht verärgern wollen. Ich finde diese Diskrepanz auch nicht verwerflich. Als Ghostwriter teile auch ich nicht immer hundertprozentig die Einstellungen meiner Kunden. In solchen Fällen ist man dann einfach professioneller Dienstleister und stellt seine persönliche Meinung hintan.
Der totale Sozialismus
Was mich allerdings stört, ist der moralische Totalitarismus, der sich dann auf anderer Ebene ausbreitet und durch die offizielle Linie angeheizt wird. In der Richtungsdebatte am Samstag wurde dann auch nicht mehr differenziert diskutiert, sondern die rhetorische Stalinorgel ausgepackt: Die eigene Sache musste schließlich gegen den Feind im Innern beschützt werden. Ein Genosse aus Berlin schüttelte dazu am Podium den Zeigefinger und versprach, den Sozialismus „bis zum letzten Mann gegen euch zu verteidigen!“ In diesem Vokssturm der Entrüstung jagte dann auch die Frau aus Thüringen alle realpolitischen Dissidenten zum christdemokratischen Teufel.
Klar ging es dabei nur um die eigene jugendkulturelle Identität, aber im Verhalten der Leute konnte man dabei fast schon faschistoide Tendenzen erkennen: Eine rauschhafte Mehrheit verhöhnte und verachtete die politische Minderheit. Jemand fragte allen Ernstes, wieso aus Baden-Württemberg überhaupt Anträge kämen, weil die ja ohnehin abgelehnt würden. Ein bayrischer Genosse verstieg sich zu der Aussage, man sei als Funktionär ja überhaupt nicht allen Jusos verpflichtet, sondern nur dem eigenen Wählerklientel. All das natürlich im ungetrübten Bewusstsein, sich für demokratische Freiheit, grenzübergreifende Solidarität und soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Auch hier gibt es natürlich besonnene Kräfte, aber die werden dann durch das laute Hurra des Kaders übertönt.
Wen es tatsächlich wundert, weshalb der Sozialismus in der Geschichte fast immer zur Diktatur mutiert ist, der findet im aufgehetzten Rudelverhalten auf dem Bundeskongress zumindest einen kleinen Hinweis: Es ist die Verachtung der Andersdenkenden.
Aber auch das weiß man aus der politischen Geschichte: Erlebte Feindseligkeiten schweißen zusammen und fördern den eigenen Idealismus. Denn auch wenn man den Pragmatikern dauernd vorwirft, keine Prinzipien oder wirklich feste Überzeugungen zu haben: Genau hier zeigt sich der der Antrieb der realpolitischen Fraktion. Weshalb sonst schreibt man in Hamburg jedes Jahr neue Papiere? Weshalb sonst stellt man in Baden-Württemberg unermüdlich Änderungsanträge? Und weshalb sonst fährt man Jahr für Jahr auf einen Kongress, auf dem man nicht nur unterlegen ist, sondern auch mit Häme und Hass überschüttet wird? Man macht es aus dem gleichen Grund, aus dem auch Karl Liebknecht seinerzeit als Einziger ohne Chance auf Erfolg gegen die Kriegskredite gestimmt hatte: Weil man die Politik der Mehrheit scheiße findet. Edler gesprochen: Weil man aus tiefer Überzeugung handelt, und sich deshalb der Masse nicht beugen kann.
Was tun?
Genau das ist auch die Antwort auf Frage Nummer zwei, weshalb man sich das immer noch antut: Die pragmatische Fraktion muss nicht um Posten oder Beschlüsse kämpfen, sondern – viel grundlegender – um ihre Anerkennung. Schon um die Demokratie bei den Jusos lebendig zu halten.
Man wird mit den eigenen Position sicher nicht die Hardliner und Opportunisten überzeugen, aber irgendwann stößt man bei den toleranteren Leuten ein langsames Umdenken an. Das muss nicht zwangsläufig ein politischer Stellungswechsel sein – aber es würde schon reichen, realpolitische Positionen als gleichwertigen Teil der Verbandsarbeit anzuerkennen und sie mit dem gleichen Respekt zu behandeln, den man für so vieles andere einfordert.
In NRW hat es dazu eine kollabierte Landeskonferenz gebraucht; seitdem nähert man sich an und trinkt auch mal wieder ein Bier zusammen. Wer weiß, was in den nächsten Jahren auf Bundesebene geschieht. Eins ist allerdings klar: Weiter so kann es nicht laufen, sonst stirbt der Verband den langsamen Tod und die Jusos verrotten im eigenen Saft. Die politisch engagierten jungen Leute in Deutschland gehen dann tatsächlich alle zur Jungen Union. Und das kann kaum im Sinne der sozialdemokratischen Sache sein.